Marilyn Manson: Der Antichrist landet auf der Anklagebank (2024)

In der Rolle des Rocker-Antichrists sorgte Marilyn Manson regelmässig für Skandale. Nun sieht er sich mit einer realen Anklage konfrontiert. Die Schauspielerin Evan Rachel Wood wirft ihm häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch vor.

Ueli Bernays

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Wenn zu Beginn des Dokumentarfilms ihre bitteren Tränen fliessen, hat Evan Rachel Wood damit etwas bereits gewonnen: das Mitleid und das Mitgefühl des Publiku*ms. Dass sich ihr mädchenhaftes Gesicht, von der Kamera im Close-up eingefangen, in traurigen Zuckungen verzieht, wühlt auf und weckt gerechten Zorn. Welcher Wolf hat diesem sanften Rotkäppchen so zugesetzt, mag man sich fragen.

Die Antwort ist bekannt. Beim Bösewicht handelt es sich um keinen Geringeren als Brian Warner alias Marilyn Manson. Ausgerechnet! Dem notorischen Schockrocker, der seine gestählten Rocksongs in einem SM-Theater zu inszenieren pflegt, traut man ja einiges zu – und durchaus auch Schlimmes. Dennoch sollte man seine anstössige Performance, die er selbst als Mission gegen religiöse und bourgeoise Hypokrisie verstanden haben will, nicht unbesonnen als Zeugnis seiner Verdorbenheit begreifen, sondern vorerst als diabolisches Rollenspiel.

Serientäter

Im zweiteiligen HBO-Film «Phoenix Rising» tritt Marilyn Manson allerdings als realer Übeltäter in Erscheinung. Dokumentiert wird der juristische Kampf seiner einstigen Liebhaberin, der Hollywoodschauspielerin Evan Rachel Wood, die ihm häusliche Gewalt, sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung vorwirft. Das prekäre Verhältnis der beiden nahm 2006 seinen Anfang und zog sich bis 2011 hin. In jener Zeit soll sich der um achtzehn Jahre ältere Rockstar verschiedene Vergehen gegen seine Partnerin zuschulden kommen lassen haben. Eigentlich wäre die Sache bereits verjährt, aber der Schauspielerin ist es vor Gericht gelungen, die Verjährungsfrist rückwirkend zu verlängern.

Auf Woods detaillierte Anklage hin wartet auf den 53-jährigen Rockstar ein gerichtliches Verfahren; auch eine vorsorgliche Verhaftung scheint wahrscheinlich, zumal die Klägerin von mehreren Leidensgenossinnen unterstützt wird, die auf eine ähnlich traumatische Beziehung mit demselben Mann zurückschauen.

Der mutmassliche Serientäter Marilyn Manson hat unterdessen aber selbst ebenfalls Klage erhoben. Er wirft Evan Rachel Wood «schreckliche Verfälschung der Realität» vor und fordert Schadensersatz, weil die angebliche Verleumdungskampagne seine Karriere zu ruinieren drohe. Tatsächlich hat sich aufgrund der «verstörenden Anschuldigungen» mittlerweile die Plattenfirma Loma Vista Recordings bereits von ihrem Künstler Marilyn Manson getrennt.

An sich wäre die Justiz die einzig richtige Instanz, um im Rosenkrieg zwischen Evan Rachel Wood und Marilyn Manson Straftatbestände zu eruieren und ein Urteil zu fällen. Aber die hitzige Beziehungsgeschichte des glamourösen Duos verspricht so viel an Dramatik und Skandal, dass das mediale Interesse so wenig erstaunt wie die Produktion eines filmischen Features wie «Phoenix Rising». Trotzdem stellt sich die Frage, weshalb Evan Rachel Wood, auf deren Sicht der Film zugeschnitten ist, den Fall von sich aus an die Öffentlichkeit bringt und dabei intime Details ihres Liebeslebens preiszugeben bereit ist. Ist es Eitelkeit, ist es Exhibitionismus? Will sie den Druck auf die Justiz erhöhen?

Marilyn Manson: Der Antichrist landet auf der Anklagebank (2)

In vergleichbaren Dokumentationen oder Serien wurde die Wirklichkeit kameragerecht dramatisiert, um etwa die Abhängigkeit Britney Spears’ von ihrem Vater zu verhandeln («Framing Britney Spears») oder den Fall des R’n’B-Stars R.Kelly («Surviving R.Kelly»), der jahrelang minderjährige Fans missbraucht hatte. Da wie dort war es darum gegangen, anhand eines prominenten Einzelfalls und aus der Opferperspektive ein gesellschaftliches Machtgefälle zu illustrieren. Einerseits wurden potenzielle Opfer so vor Missbrauch und Gewalt gewarnt. Andrerseits sollte das Publikum in eine kathartische Erregung versetzt werden, die es allenfalls zu Parteinahme und Wachsamkeit bewegt.

Ähnlich erweist sich auch «Phoenix Rising» als eine Art filmisches Volkstribunal. Im Zeichen von #MeToo wird abermals das Verhältnis der Geschlechter aufs Tapet gebracht – und insbesondere jene Schattenzone libidinösen Fehlverhaltens, die beim Übergriff beginnt und bis zur Vergewaltigung reichen kann. Wenn aber die soziale Realität an sich schon schwierig zu fassen ist, so scheint das Spannungsfeld sexueller Wechselwirkungen erst recht kompliziert und verworren. So kommt es dem Bedürfnis nach Klarheit entgegen, wenn die Vielfalt von Verhältnissen, Facetten und Faktoren auf eine klärende Polarität heruntergebrochen werden kann: Opfer und Täter, die Schöne und das Biest.

Tatsächlich bietet sich Marilyn Manson in seinem drastischen, martialischen Auftreten scheinbar als exemplarische Verkörperung toxischer Männlichkeit an. Und wer es irritierend findet, dass sich die mehrjährige Liebesbeziehung zwischen dem Rockstar und der Schauspielerin eine Dekade später plötzlich als Verkettung missbräuchlicher und gewalttätiger Handlungen herausstellen soll, der wird in «Phoenix Rising» durch Evan Rachel Woods tränenreiche Erklärungen bald von seinen Zweifeln befreit. Manson hingegen hat hier nichts zu sagen, er tritt nur noch als mythisches Monster in Erscheinung.

Evan Rachel Wood, die bereits in früher Jugend in Filmen wie «Thirteen» brillierte, kann so die Plausibilität und das Recht ganz für sich in Anspruch nehmen. Und wenn sie erzählt, wie ihr 2006 an einer Party – sie war damals 17-jährig – ein geschminkter Mann in goldenem Anzug erschien, den sie zunächst für ein Marilyn-Manson-Double hielt, der sich dann aber als richtiger Marilyn Manson erwies, dann glaubt man ihr das. Und man glaubt ihr auch, dass sie sich geschmeichelt fühlte, als sie der berühmte Künstler später mit Liebesbriefen bombardierte, als Seelenverwandte bezeichnete, um sie dann langsam von ihrem familiären Umfeld zu isolieren.

Den ersten Kuss des Rockidols habe sie noch als romantischen Schock empfunden. Bald aber sei sie zum Opfer seiner Launen geworden, seines Jähzorns und seiner sexuellen Eskapaden. Übergriffe seien dabei stets als innige Liebe getarnt worden. Marilyn Manson ritzte sich Woods Namen in die eigene Haut, während sie auf ihrem Oberschenkel gleichzeitig das Kürzel MM einzugravieren hatte.

Der Schockrocker widmete seiner jungen Partnerin auch ein paar Songs. «Heart-Shaped Glasses» zum Beispiel. Im entsprechenden Videoclip war sie selbst mit von der Partie. Sie hatte sich zu einer angedeuteten Sexszene überreden lassen. Auf dem Set aber soll Marilyn Manson den Geschlechtsverkehr plötzlich in echt und vor aller Augen vollzogen haben. Für Wood war das eine erste Vergewaltigung. In ihren lebhaften Schilderungen gibt es noch viele weitere Szenen der Erniedrigung, der Folter und der Gewalt. Als sie ihrem Peiniger schliesslich entfloh, soll er ihr mit Mord gedroht haben. Und noch heute, da sie gegen ihn prozessiert, fürchte sie seine Rache und den Zorn seiner getreuen Fans.

Vom Loser zum Monster

Die Vorwürfe gegenüber Marilyn Manson wirken so bestürzend wie glaubhaft. Wer sich «Phoenix Rising» angeschaut hat, wird hoffen, dass der Delinquent trotz Berühmtheit seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Dabei fragt man sich allerdings, ob der Film in die #MeToo-Bewegung passt, an deren Mission er anknüpft. Zweifelhaft ist es jedenfalls, von Marilyn Mansons exzentrischer Persönlichkeit und deren verstörender Veranlagung Rückschlüsse auf die alltägliche Männlichkeit zu ziehen. Ist es nicht immer falsch, von Extremen auf eine Allgemeinheit zu schliessen?

Marilyn Manson ist ein schillernder Einzelfall – als Mensch, als Mann, als Künstler. Tatsächlich darf er für sich Eigensinn und Originalität in Anspruch nehmen. Wobei sein forcierter Nonkonformismus auch ein Schicksal zu sein scheint. In seiner Autobiografie spricht der Rockstar zwar lakonisch und mit Selbstironie davon, wie er von seinem Vater geprügelt, von seinen Peers gemobbt und von seinen Lehrern verachtet worden sei. Aber just diese erniedrigenden Erfahrungen scheinen den jungen Brian Warner zur Kunstfigur Marilyn Manson inspiriert zu haben, die mit Schminke maskiert, mit Swastikas geschmückt, mit Peitschen bewaffnet Rache nehmen sollte an der menschlichen Bestie.

Als rockender Antichrist mochte er sich zunächst noch als Anwalt der Zukurzgekommenen einsetzen und beispielsweise den «fascism of beauty» in der Pop-Kultur bekämpfen. Mit den Jahren aber geriet er immer mehr in den Strudel eines überbordenden Narzissmus, der in Jähzorn und Sadismus ausartete. Wenn Evan Rachel Wood erklärt, Brian Warner sei sozusagen verschluckt worden von Marilyn Manson, so hat der Rockstar Ähnliches selbst schon in seiner Autobiografie festgehalten: «Ich wurde das kalte, emotional verkrüppelte Monster, das ich immer sein wollte.»

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